Experten befürchten Verteilungskämpfe um Impfstoff

Wer wird geimpft, falls sich die Schweinegrippe zur weltweiten Bedrohung entwickelt? Die WHO-Direktorin für Impfstoffe, Marie-Paule Kieny, warnt im SPIEGEL: Im Pandemiefall werden Milliarden Dosen zur Immunisierung fehlen. Vor allem Entwicklungsländer bleiben außen vor.

Hamburg - Engpass Impfstoff: Marie-Paule Kieny, Direktorin für Impfstoffe der Weltgesundheitsorganisation WHO, befürchtet, dass der globale Bedarf an Impfstoff gegen das Schweinegrippe-Virus nicht zu decken sein wird. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte sie: Selbst wenn die Impfstoffproduktion gegen das neuartige Virus bald weltweit in Gang komme, würden im Falle einer Pandemie "Milliarden von Impfdosen fehlen". Gerade für die armen Länder werde "absolut nichts übrig sein".

Die Pharmafirmen der Welt werden ihren Angaben zufolge innerhalb des nächsten Jahres maximal ein bis zwei Milliarden Impfdosen herstellen können, so Kieny. Michael Pfleiderer, Leiter des Fachgebiets Virusimpfstoffe am Paul-Ehrlich-Institut, bezifferte die maximale Produktionskapazität im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE auf eher nur eine Milliarde Dosen. Etwa 80 Prozent der gesamten Impfstoff-Produktion finde dabei in den USA und Europa statt, so der Experte. Um eine erfolgreiche Immunisierung gegen ein Pandemievirus zu gewährleisten, muss ein Mensch jedoch zweimal geimpft werden. Somit ließen sich maximal 500 Millionen bis eine Milliarde Menschen schützen - weniger als ein Sechstel der Weltbevölkerung.

Kieny kritisierte, dass der Hauptteil des Impfstoffs bereits verkauft sei. Nach Informationen des SPIEGEL besitzen Länder wie Deutschland lange bestehende Verträge mit Impfstoffherstellern. Dadurch seien diese verpflichtet, genügend Impfstoff zu liefern, um die gesamte Bevölkerung, wenn medizinisch erforderlich, zweifach zu impfen.

Kieny regt nun an zu prüfen, ob die entwickelten Länder ihre Impfprogramme auf Risikogruppen beschränken könnten. Auf diese Weise könnte mehr Impfstoff auch für ärmere Länder abgezweigt werden. Auf der am Montag beginnenden Weltgesundheitsversammlung in Genf will WHO-Chefin Margaret Chan einen Aufruf zur Solidarität an die versammelten Gesundheitsminister richten.

Das Schweinegrippe-Virus H1N1 breitet sich unterdessen weiter aus: Nach Angaben der WHO gab es weltweit 7520 offiziell bestätigte Fälle von Ansteckung mit H1N1 und 65 Todesfälle. 60 davon in Mexiko, drei in den USA, einer in Kanada und einer in Costa Rica. Derweil meldete die oberste US-Gesundheitsbehörde CDC noch zwei weitere Todesfälle: Ein etwa 30 Jahre alter Mann in Texas und eine Frau aus Arizona seien in der vergangenen Woche an dem Virus gestorben. Die CDC schätzt, dass etwa 100.000 US-Amerikaner mit H1N1 infiziert sind. Zugleich lockerte sie die Reisewarnungen für Mexiko: Die meisten Erkrankten hätten gesundheitliche Komplikationen besessen. Reisewarnungen würden daher nur noch gezielt an Menschen ergehen, die sich in ärztlicher Behandlung befänden.

Der Londoner Epidemiologe Neil Ferguson veröffentlichte mit seinem Forscherteam im Fachmagazin " Science" kürzlich eine erste Analyse zu dem Virus. Darin kommen die Forscher zu dem Schluss, dass das Virus "mit ziemlicher Sicherheit eine globale Epidemie auslösen wird". In sechs bis neun Monaten werde es weltweit verbreitet sein, ein Drittel der Menschheit werde sich infizieren. Dennoch glaubt Ferguson nicht an apokalyptische Entwicklungen: "Aber es ist nicht das Katastrophenszenario, das Menschen im Fall der Vogelgrippe befürchtet hatten", sagte Ferguson dem Online-Dienst Nature News.