Laut neuen Schätzungen sollen sich bis zu 600 Deutsche täglich mit dem H1N1-Virus infizieren. Die Zahl klingt dramatisch – und nimmt sich verglichen mit anderen Krankheiten doch bescheiden aus.
Von FOCUS-Online-Redakteurin Helwi Braunmiller
Seit Juni firmiert die Schweinegrippe offiziell als Pandemie. Die WHO hat der Seuche die Stufe 6 verpasst, damit deklariert sie die Krankheit zur Pandemie. Doch das bedeutet nicht, dass automatisch ein Massensterben einsetzt. Vielmehr ist eine Pandemie eine Epidemie, die sich um den ganzen Globus verbreitet hat. Wie schwer die Infektion verläuft, ist dabei völlig nebensächlich. Für den Beobachter bekommt eine mild verlaufende Erkrankung, wie es bei der Schweinegrippe momentan der Fall ist, damit den Anstrich einer hochdramatischen Infektion.
AP Experten warnen vor Nachlässigkeit – und vor Hysterie
Es liegt auf der Hand: Die Infektionszahlen nehmen zu, und damit wird auch die Zahl der Todesfälle ansteigen. Allerdings wird die neue Grippe nicht automatisch gefährlicher, wenn mehr Menschen an ihr leiden. Wie mild die Krankheit momentan verläuft, zeigen ironischerweise die Infektionszahlen. Zwar sprechen Experten von einem sprunghaften Anstieg der Infizierten – bis zu 600 neue Fälle allein in Deutschland pro Tag – doch diese dramatisch klingende Zahl verschleiert die Tatsache, wie viele Betroffene ihre Erkrankung gut überstehen. So sind international laut WHO 134 503 Fälle bekannt (Stand 27. Juli), davon verlief für 816 die Krankheit tödlich. Zum größten Teil handelte es sich dabei um Personen, die körperlich bereits geschwächt waren. In anderen Worten heißt das: Auf 165 Erkrankte kam ein Todesfall, das sind 0,6 Prozent der Infizierten. In der Statistik fehlen die Betroffenen, die nie einen Arzt aufsuchten, weil sie ihren vermeintlichen grippalen Infekt einfach in wenigen Tagen zu Hause „ausschwitzten.“ Sie litten unter Kopf- und Gliederschmerzen, Husten und Schnupfen – und waren nach wenigen Tagen wieder völlig auf dem Damm.
4400 TBC-Tote pro Tag
Davon können Tuberkulosepatienten nur träumen. Die Lungenkrankheit ist ebenfalls per definitionem eine Pandemie. Allein eine einzige Person mit aktiver, also „offener“ TBC steckt im Jahr zehn bis 15 andere Personen an. Weltweit sterben pro Tag etwa 4400 Menschen daran. Ein Faktor für die hohe Sterblichkeit ist sicher, dass TBC eine klassische Armutserkrankung ist. Ein ebenso gravierendes Missverhältnis zwischen Häufigkeit und Schwere und öffentlicher Aufmerksamkeit herrscht für Aids. 2007 infizierten sich laut WHO 2,7 Millionen mit der Immunschwäche-Krankheit, zwei Millionen starben innerhalb dieses Zeitraums daran. Zwei Drittel der Todesfälle waren allerdings in Afrika – und damit weitab vom Fokus europäischer Medien.
Dieses Ungleichgewicht ärgert auch Hans Rosling vom schwedischen Karolinska Institut. Er kämpft in seinem Videoblog dafür, die Schweinegrippe, bei aller gebotenen Vorsicht, in die richtige Dimension zu befördern. Dazu bedient er sich eines einfachen Rechenspiels: Er verglich die TBC-Fälle mit den Schweinegrippefällen zwischen 24. April und 6. Mai diesen Jahres. Innerhalb dieser 13 Tage starben 63 066 Menschen an Tuberkulose – an Schweinegrippe 31. Anschließend verglich der Statistik-Spezialist die Menge der medialen Berichterstattung über die Google-Newssuche. Für genau diesen Zeitraum fand er 253 422 Berichte zur neuen Grippe, jedoch nur 6501 zur Tuberkulose. Setzt man diese Werte in ein sogenanntes „News per death ratio“, heißt das: Auf einen Schweinegrippetoten kamen 8176 Artikel, auf ein TBC-Opfer entfiel dagegen gerade mal 0,1 Artikel.
Internationale Notfallpläne
Viele Gründe sprechen dafür, warum die Schweinegrippe einen so hohen Stellenwert einnimmt: die schnelle Verbreitung zur ungewöhnlichen Jahreszeit, die Angst vor einer Mutation des Virus, die schlechte Bekämpfbarkeit und die großangelegten Notfallpläne. Für jeden Beobachter war nachvollziehbar, wie über Wochen hinweg die Schweinegrippe immer höhere Gefahrenstufen erklomm, bis sie schließlich mit der Stufe 6 zur Pandemie erklärt wurde. Hier genau liegt der Unterschied zu den anderen Seuchen. „Im Grunde hat man so noch nie eine Pandemie ausgerufen, einfach weil noch nie ein Pandemieplan in dem Stil aufgestellt wurde. Bislang gab es die Phasen in der heutigen Form noch nicht“, sagt Susanne Glasmacher, Pressesprecherin des Robert-Koch-Instituts.
Vor zu großer Gelassenheit warnt das Robert-Koch-Institut jedoch. Zwar hat die WHO hat die aktuelle Schweinegrippe-Pandemie global als „mäßig gefährlich“ eingestuft. Damit will sie jedoch keine Aussage darüber treffen, wie drastisch die Grippewelle einzelne Länder trifft. „Wir haben momentan Sommer, das darf man nicht vergessen – das ist eigentlich keine günstige Influenzazeit, und dennoch steigen die Zahlen enorm“, sagt Susanne Glasmacher. Vorsicht ist geboten. Ihrer Verantwortung versuchen die Staaten und Gesundheitssysteme nun mit der Bereitstellung öffentlicher Mittel für Impfstoffe, Impfplänen und Aufklärung Rechnung zu tragen – während TBC weiterhin 4400 Menschen täglich ihr Leben kostet.
Quelle: bild.de, rp-online.de, focus.de, welt.de, berlinonline.de, AFP, mz-web.de, n-tv.de, sueddeutsche.de, spiegel.de, aerztezeitung.de.....
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