Im Griff der Influenza

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Täglich 100.000 H1N1-Infizierte in England bis September, so die Prognose der Behörden. Doch sorgen sollten wir uns um die Länder der Südhalbkugel – dort ist bald Winter.

Sorge auf der Südhalbkugel: Ein Passagier auf dem Ezeiza Flughafen in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires bindet sich einen Mundschutz um. Das Land geht mittlerweile von 100.000 unbestätigten H1N1-Infizierten aus

Schulen wurden geschlossen und das Medikament Tamiflu gleich massenweise unters Volk gebracht: Eher wie im Schweinsgalopp hatten die Behörden im Vereinigten Königreich versucht, die Ausbreitung der Amerikagrippe zu verhindern. Doch die aggressive Strategie Großbritanniens gegen den als Schweinegrippe-Virus bekannt gewordenen Influenzaerreger H1N1 scheint sich nicht ausgezahlt zu haben. Am Donnerstag gab der britische Gesundheitsminister Andy Burnham im Unterhaus bekannt, dass das Virus nicht mehr einzudämmen sei: "Die Zahl der Fälle verdoppelt sich Woche für Woche, bleibt es bei diesem Trend, könnten wir Ende August 100.000 neue Fälle pro Tag zählen."

Diese neue Entwicklung klingt bedrohlich, doch sie ist es nicht. Nach wie vor verläuft die Amerikagrippe in den allermeisten Fällen milde. Viele Erkrankte erholen sich rasch von den Symptomen wie Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen und einer allgemeinen Abgeschlagenheit. Noch dazu benötigen sie in den allermeisten Fällen nicht einmal Medikamente. Bislang zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund 90.000 Fälle in mehr als 100 Ländern. Fast 400 Menschen sind gestorben. Diese Zahlen sind im Vergleich zu den jährlich auftretenden Grippewellen in der Winterzeit sehr gering. So sterben weltweit jedes Jahr etwa eine halbe Million Menschen an der saisonalen Influenza, allein in Deutschland sind es jährlich zwischen 8000 und 11.000.

Die Amerikagrippe überträgt sich leicht, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich Kontinent übergreifend ausbreitet. Eine Tatsache, die die WHO dazu veranlasste, die Influenza als weltumspannende Seuche zu definieren, wenngleich sie noch sehr harmlos ausfällt. Das die Zahlen nun in die Höhe schnellen, ist nicht verwunderlich. Viele Menschen wissen oft nicht, ob sie sich angesteckt haben oder nicht. Die Labore kommen kaum hinter her, die gemeldeten Fälle im Labor als H1N1-Erkrankungen zu bestätigen. So sagte Magaret Chan, die Direktorin der WHO auf einer Tagung zur Amerikagrippe im mexikanischen Cancún erneut: "Die internationale Ausbreitung ist nicht zu stoppen."

Derzeit zählt keine andere europäische Nation so viele Neuerkrankungen wie Großbritannien. Bestätigt sind derzeit rund 7500 Infektionen und drei Todesfälle. Die tatsächliche Zahl der Infizierten liege laut den Behörden allerdings weit höher. Deshalb tritt jetzt die "Behandlungs-Phase" des britischen Pandemieplans in Kraft. Ärzte sind nunmehr dazu aufgerufen, Verdachtsfälle nicht mehr auf den Erreger zu testen, sondern Patienten mit Grippesymptomen medizinisch zu versorgen und sie zu ermahnen, zu Hause zu bleiben. Der Schritt der britischen Regierung sei ausschließlich damit zu erklären, dass das Virus nicht mehr einzudämmen sei. Keineswegs werde die Amerikagrippe gefährlicher oder gar tödlicher.

Der Virologe John Oxford vom Royal London Hospital reagierte allerdings skeptisch auf die Zahl der vom britischen Gesundheitsministerium prognostizierten Neuerkrankungen. 100.000 neue Fälle pro Tag ab Ende August klängen mehr nach "viel mathematischer Rumrechnerei" als nach "gesundem Menschenverstand", sagte er der New York Times. Solche Zahlen könne man nur raten, ohnehin erwartet Oxford, dass die Grippe durch das warme Wetter im Sommer abflauen werde. Ob dies eintrete, bleibt abzuwarten, denn noch haben Forscher keine Erklärung dafür, warum in vielen Ländern, in denen zurzeit warme Temperaturen herrschen, sich noch viele Menschen mit H1N1 anstecken.

Kritik von Virologen und Influenza-Experten erntete indes der wochenlange Versuch der britischen Behörden, die Amerikagrippe durch den großzügigen Einsatz des Grippemedikaments Tamiflu einzudämmen. Ein solches Vorgehen verschwende nicht nur Mittel zur Bekämpfung der Erkrankung, sondern könne gar Resistenzen gegen den H1N1-Erreger fördern. Gestern erklärte Gesundheitsminister Burnham dann auch, man wolle antivirale Medikamente nur noch an Leute verteilen, die sich dem Anschein nach mit der Amerikagrippe infiziert haben.

In Dänemark und nun auch in Japan und im chinesischen Hongkong haben Erkrankte bereits eine Resistenz gegen das Grippemittel Tamiflu des Herstellers Roche entwickelt. Die drei betroffenen Personen seien allerdings wieder gesund und konnten mit dem Medikament Relenza behandelt werden. Eine Sprecherin des Berliner Robert-Koch-Instituts sagte ZEIT ONLINE, dass es sich hierbei vermutlich um Einzelfälle handele. Zudem seien Resistenzen gegen Tamiflu nicht ungewöhnlich. Diese treten auch bei der saisonalen Grippe auf. Auch der Hersteller Roche bestätigte das.

Sorgen wegen der Amerikagrippe sollten sich hingegen die Länder der Südhalbkugel. Die Direktorin der WHO, Magaret Chan, erneuerte ihre Warnung, dass das Virus nun auf die ärmsten Länder der Welt treffe. Noch dazu beginnt jetzt der Winter in diesen Nationen. Jene Zeit also, in der Grippe-Erreger optimale Lebensbedingungen vorfinden. Deswegen sollten sich die reichen Länder nun solidarisch zeigen, denn auf der Südhalbkugel ist die Müttersterblichkeit hoch und chronische Krankheiten weit verbreitet.

Auf der Konferenz zur Amerikagrippe in Cancún sagte Argentiniens Gesundheitsminister Juan Luis Manzur, er schätze die Zahl der Grippekranken in seinem Land mittlerweile auf 100.000. Bestätigt seien offiziell rund 1600 Infektionen. Weitere Länder der Südhalbkugel gehen von großen Dunkelziffern aus, jetzt wo der Winter hier beginne.

Zuvor hatte die WHO-Direktorin angekündigt, dass so bald wie möglich rund 150 Millionen Impfdosen für die ärmsten Länder zur Verfügung stehen sollen. Bereits im August erwarte man die ersten Dosen, sagte Chan im mexikanischen Cancún. Ob die Vakzine so früh geliefert werden können, ist allerdings fraglich. Schließlich muss der Impfstoff nicht nur produziert, sondern auch noch getestet und zugelassen werden.

Dieses Vorhaben stieß besonders bei Cuauhtémoc Ruiz von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAG) auf Kritik. "Die reichen Länder haben sich bereits bis zu 80 Prozent der künftigen Impfstoffproduktion gesichert." Bestenfalls könnten die Entwicklungsländer 20 Prozent der Impfdosen erhalten.

Viele Gesundheitssysteme der ärmeren Länder sind den Anforderungen einer Grippewelle kaum gewachsen. Zudem fehlt es an antiviralen Medikamenten, die den Seuchenzug der Amerikagrippe verzögern könnten. Der Hersteller von Tamiflu, Roche, kündigte an, Entwicklungsländern einen Rabatt einzuräumen, damit sie sich mit dem Medikament versorgen können. Natürlich ist diese Großzügigkeit nicht uneigennützig, schließlich verdient der Pharmariese mit seinem Mittel derzeit Millionen.

Doch die Behandlung bereits erkrankter Personen bedeuten auch weniger Infektionen in diesen Ländern. So hätte das Virus geringere Chancen zu mutieren und aggressiver zu werden. Anzeichen gibt es dafür zwar noch keine, und auch das Robert-Koch-Institut dementierte eine entsprechende Meldung aus den vergangenen Tagen. Eine Überschrift der Nachrichtenagentur Reuters, die eine solche Entwicklung suggeriert hatte, sei schlichtweg unglücklich formuliert gewesen, sagte eine Sprecherin ZEIT ONLINE.

Mit der Amerikagrippe ist auch weiterhin nicht zu spaßen. Jetzt stellt sie die Hilfsbereitschaft der gut gewappneten reichen Länder auf die Bewährungsprobe. Auf der Nordhalbkugel lässt sich die Entwicklung noch recht gelassen mit ansehen. Und doch befinden sich die Behörden nach wie vor in einer Zwickmühle: Die größte Herausforderung sei es, sagte Chan, den Menschen den Ernst der Lage begreiflich zu machen. Es sei wichtig wachsam zu sein, selbst wenn sich nicht jeder dringend in Behandlung begeben müsse.

Quelle: bild.de, rp-online.de, focus.de, welt.de, berlinonline.de, AFP, mz-web.de, n-tv.de, sueddeutsche.de, spiegel.de.....