Zuversichtlich in der Pandemie

Das Virus unter dem Mikroskop

17. Juli 2009 Ob sich das neue Grippevirus H1N1, das sich derzeit weltweit rapide ausbreitet, letztendlich als ein vergleichsweise harmloser neuer saisonaler Erreger etabliert oder zu einem hochgefährlichen Virus weiterentwickelt, vermag heute niemand zu sagen. Um sein Gefahrenpotential in etwa einzuschätzen, haben Wissenschaftler es in den vergangenen Monaten im Detail analysiert, wie es wohl entstanden ist und inwieweit das Virus früheren, gefährlichen Pandemie-Erregern ähnlich ist. In der Zeitschrift „New England Journal of Medicine“ versuchen sie aus ihren Erkenntnissen Konsequenzen für den Umgang mit der neuen Grippe-Pandemie zu ziehen.

Seit Ende der neunziger Jahre zirkulieren in Nordamerika mehrere Influenzastämme unter Schweinen, die in ihrem Erbgut Gene von einem Vogelgrippevirus und einem Grippevirus des Menschen enthalten. Diese Viren haben Menschen nur in wenigen Einzelfällen infiziert, meist Personen, die engen Kontakt zu Schweinen hatten. Diese Schweineviren sind, wie molekulargenetische Analysen ergaben, offenbar die Vorläufer des jetzigen humanpathogenen H1N1-Virus. Zwei dieser sogenannten dreifach reassortierten Schweinevirusvarianten haben, wie Gabriele Neumann und Yoshihiro Kawaoka von der Universität von Wisconsin-Madison in Madison in einem Übersichtsartikel in der „Nature“ (Bd. 459, S. 931) darlegten, ihr Erbmaterial miteinander vermischt und außerdem Erbmaterial von einem aus Nordeuropa stammenden Schweinevirus erworben. Aus dem resultierenden Influenzavirus ist durch weitere genetische Veränderungen der neue H1N1-Erreger entstanden. Das neue Virus, das ebenfalls dreifach reassortiert ist, wird sehr leicht von Mensch zu Mensch übertragen, Schweine vermag es jedoch praktisch kaum noch zu infizieren.

Personen über 60 Jahren könnten partiellen Schutz besitzen

Verschiedene H1N1-Varianten kursieren seit mindestens 1918 in der menschlichen Population - mit einer kurzen Unterbrechung von 1958 bis 1977, in der das Virus praktisch untertauchte. Der Erreger von 1918 hat die bislang verheerendste Influenza-Pandemie ausgelöst, der Schätzungen zufolge weltweit fünfzig Millionen Menschen zum Opfer fielen. Wie Robert Belshe von der St. Louis University in St. Louis (Missouri) in einem Kommentar im „New England Journal of Medicine“ (Bd. 360, S. 2667) betont, ist die neue Grippe-Pandemie „keine Neuauflage“, sondern vielmehr eine „Fortsetzung“ von 1918, da der neue Erreger Reste des H1N1-Virus von damals enthält.
Das neue Virus H1N1 hat als Schweinegrippe in den Vereinigten Staaten begonnen
Die neue Variante ist zwar leicht von Mensch zu Mensch übertragbar, die Erkrankung indessen meist eher milde und ähnelt damit der durch saisonale Influenzaviren verursachten Grippe. Auffallend ist allerdings, dass die Grippekranken außer an hohem Fieber, Husten und Halsschmerzen häufig auch an Durchfall und Erbrechen leiden.

Bislang ist unbekannt, inwieweit frühere Infektionen mit anderen H1N1-Varianten vor dem neuen Grippevirus schützen. Der Erreger unterscheidet sich deutlich vom H1N1-Virus der letzten Grippesaison und wird durch die entsprechende Schutzimpfung offenbar nicht gehemmt. Allenfalls Personen über sechzig Jahre könnten wegen des häufigen Kontaktes mit diversen H1N1-Varianten einen partiellen Schutz besitzen, vermuten die Immunologen.

Auf das Einmischen von Erbmaterial aus verschiedenen Wirten achten

Mehrere Firmen haben inzwischen mit der Produktion eines Impfstoffes gegen den neuen Erreger begonnen. Es war indessen nicht zu schaffen, bis zum Beginn des Winters auf der Südhalbkugel und damit bis zur dortigen neuen Grippesaison ausreichende Impfstoffmengen herzustellen und die notwendigen Sicherheitsprüfungen durchzuführen. Für die nächste Grippesaison auf der Nordhalbkugel ist indes anstelle des üblichen Dreifachimpfstoffes nun ein Vierfachimpfstoff geplant. Er soll wie üblich gegen das bisher schon zirkulierende Influenza-A/H1N1-Virus, ein A/H3N2-Virus sowie Influenzaviren vom Typ B immunisieren und zusätzlich nun auch vor dem neuen H1N1-Virus schützen.

Die Geschichte der Influenza-Pandemien lehrt, dass mehrmals einer zwar weltweiten, zunächst aber harmlosen Grippewelle eine zweite, gefährliche Welle folgte. Das hat sich besonders dramatisch bei der Spanischen Grippe von 1918 gezeigt, aber auch bei den Pandemien von 1957 und 1968.

Vorläufer des Erregers der Spanischen Grippe zirkulierten bereits 1911 unter Menschen und in Schweinepopulationen, also schon Jahre vor dem Ausbruch der Grippe, wie Forscher um den Epidemiologen Robert Webster vom St. Jude Children's Research Hospital in Memphis (Tennessee) jetzt in den „Proceedings“ der amerikanischen Akademie der Wissenschaften (Bd. 106, S. 11709) berichteten. Zu einem gefährlichen Erreger wurden die früheren Pandemie-Viren offenbar durch mehrmaliges Einmischen von Erbmaterial vom Menschen, vom Schwein und von Vögeln. Es sei daher wichtig, bei den jetzt zirkulierenden H1N1-Viren nicht nur nach Veränderungen in dem für die Infektiosität wichtigen H1-Gen zu suchen, sondern vor allem auf das Einmischen von Erbmaterial aus verschiedenen Wirten zu achten.

Infektiologen warnen vor Resistenzen
Schwein als Mischgefäß für Influenzaviren

Die Entwicklungswege der Influenzaviren sind oft unergründlich. 1997 hatte ein neues Vogelgrippevirus - H5N1 - die schlimmsten Befürchtungen geweckt, denn der Erreger breitete sich unter Geflügel und Vögeln weltweit rasch aus. Er befiel zwar nur selten den Menschen, von den Erkrankten starb jedoch bald jeder zweite. Die Furcht war daher groß, dass das H5N1-Virus eine Pandemie mit unzähligen Todesopfern auslösen könnte. Diese Gefahr sei gering, argumentierte damals Christoph Scholtissek, einer der Influenza-Experten, der früher an der Universität Gießen forschte und unlängst für sein Lebenswerk mit der Loeffler-Frosch- Medaille der deutschen Gesellschaft für Virologie ausgezeichnet wurde.

Er war damals schon überzeugt, dass eine nächste Pandemie von einem Schweinegrippevirus ausgehen würde. Denn die Hürde vom Vogel zum Menschen ist für Influenzaviren sehr hoch und eine Übertragung daher wenig wahrscheinlich. Das Schwein aber diene als Mischgefäß für Influenzaviren von Schwein, Vogel und Mensch und liefere sehr schnell neue genetische Varianten, von denen einige den Menschen mühelos befallen können, argumentierte der Forscher.

Grippemittel nicht aus purer Angst anwenden

Dass die neue H1N1-Variante eine tödliche Grippe-Pandemie vom Ausmaß der Spanischen Grippe hervorrufen könnte, halten die Fachleute indes für eher unwahrscheinlich. Die internationale Kooperation der Wissenschaftler und der gesamte Informationsfluss über die Entwicklung der Pandemie, auch in die Öffentlichkeit hinein, sind heute viel besser. Aus historischen Berichten geht hervor, dass eine genaue Information der Bevölkerung über das Ausmaß der Gefahr nicht nur hilft, Panik zu vermeiden, sondern die Überlebenschancen direkt erhöht. Dagegen fördern Vertuschungen das Chaos und lassen das Gesellschaftsleben zusammenbrechen, wie ein Vergleich der Situation in San Francisco mit der in Philadelphia während der Spanischen Grippe zeigt (“Nature“, Bd. 459, S. 322). Veränderungen des Erregers sind heutzutage mit modernen Methoden genauer und schneller zu diagnostizieren, und nicht zuletzt ist die medizinische Versorgung wirksamer. Infektionen mit dem neuen H1N1-Virus lassen sich mit Medikamenten - Tamiflu und Relenza - abschwächen, die es ebenfalls 1918 noch nicht gab.

Impfstoffe können dank gentechnischer Methoden vergleichsweise schnell maßgeschneidert werden und den Vormarsch des Erregers stoppen. Allerdings besteht die Gefahr, wie sich vereinzelt schon gezeigt hat, dass sich unter der Medikation resistente Viren durchsetzen, gegen die die Mittel nicht mehr wirken. Ein erster Fall von Resistenz gegen Tamiflu ist bei dem neuen Virus unlängst in Dänemark aufgetaucht. Praktisch alle H1N1-Varianten sind zudem bereits resistent gegen Amantadin, nicht weil sie es von Natur aus wären, sondern weil dieses alte Grippemittel viel zu häufig und unbedacht angewandt worden ist. Sollte sich eine gefährliche Pandemie abzeichnen, kommt es den Infektiologen zufolge darauf an, die wirksamen Grippemittel nicht prophylaktisch aus purer Angst, sondern nur nach strenger medizinischer Indikation anzuwenden. Eine wichtige Möglichkeit, der drohenden Gefahr wirksam zu begegnen, wäre sonst schnell verspielt.

Text: F.A.Z. Bildmaterial: dpa, GE