H1N1-Virus Von Karen Naundorf
Ein Land im Grippeschock
Wie die Schweinegrippe im Winter wüten kann, zeigte sich in Argentinien. Dort lähmte das Virus das öffentliche Leben
Der Mundschutz war spätestens im Juni und Juli in Bueonos Aires allgegenwärtig. Mitarbeiter des Flughafens mussten ihn bereits seit Ende April tragen Daniel Garcia/AFP/Getty ImagesWer in Buenos Aires niest, dem wünscht niemand mehr nur »Gesundheit«. Spätestens seit dem 15. Juni, als der erste Argentinier an der Schweinegrippe starb, fragen die Leute, um die eigene Gesundheit besorgt: »Hast du Grippe?« In der U-Bahn geht man auf Abstand. Und wer keine Lust zu arbeiten hat, muss nur im Büro anrufen und ein bisschen ins Telefon husten. Denn Argentinien ist nach den USA das Land mit den meisten Schweinegrippe-Toten, 337 sind es nach offiziellen Angaben.
Langsam ebbt die Epidemie ab, doch das Land erwacht nur allmählich aus dem Grippeschlaf, der das öffentliche Leben vier Wochen lang lahmlegte. Es gab Ferien für die Kinder, Sonderurlaub für Schwangere, die Universitäten schlossen ihre Tore. Auf der Avenida Corrientes, dem Broadway von Buenos Aires, blieben zum ersten Mal seit mehr als 90 Jahren zehn Nächte lang die Lichter aus. Einige Theater versuchten zunächst, Besucher zu locken, indem sie versprachen, nur jeden vierten Platz zu besetzen. Trotzdem sanken die Kartenverkäufe um 80 Prozent, und die Theater schlossen ganz.
Seit Wochen wird das Land von einer Kältewelle heimgesucht. Gefühlte drei Grad waren es Ende Juli in der Hauptstadt, in der viele Wohnungen keine Heizkörper haben. Erst wenn es bei uns Herbst wird, kommt in Argentinien der Frühling. Doch Daniel Farias vom Hospital Posadas in Buenos Aires warnt davor, auf den Anstieg der Temperaturen zu vertrauen: »Wie diese das Virus beeinflussen, wissen wir noch nicht. Es fällt auf, dass es auch auf der Nordhalbkugel, wo zurzeit Sommer ist, immer mehr neue Fälle gibt.«
Das Hospital Posadas kennt seit der Schweinegrippe jeder in Argentinien. »Krankenhaus vor dem Kollaps«, schrieben die Zeitungen, weil der Ansturm der Grippekranken die Ärzte überforderte. Dabei hatten sich Farias und sein Team vorbereitet. Die Planungen begannen Ende April, als die ersten Meldungen aus Mexiko kamen. Ein Seiteneingang des Krankenhauses wurde zum Sonderzugang für Grippekranke erklärt, 50 Isolierzimmer wurden eingerichtet.
»Für diese Maßnahme wurden wir anfangs von der Verwaltung kritisiert«, sagt Farias. »Als die Sars-Epidemie drohte, bereiteten wir uns genauso vor, und später hatten wir keinen einzigen Fall.« Diesmal gab es Kranke: Mehr als 3500 Patienten mit Grippeverdacht kamen ins Hospital Posadas, 620 wurden stationär behandelt, 199 hatten wirklich die Schweinegrippe, 16 starben. Im Posadas bekam jeder Kranke ein Bett. Im Provinzkrankenhaus in Berazategui sollen Kranke auf Stühlen geschlafen haben.
Die argentinische Regierung reagiert spät. Als die Weltgesundheitsorganisation am 11. Mai die Pandemiestufe sechs ausruft, fordert die Gesundheitsministerin, Maßnahmen zu ergreifen. Sie stößt auf taube Ohren. Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner hat offensichtlich vor, die Wahlen Ende Juni ohne Hemmnisse über die Bühne zu bringen. Obwohl am 15. Juni das erste Todesopfer verzeichnet und das Virus auf einer Schweinefarm in der Provinz Buenos Aires ausgemacht wird, geht der Betrieb an Schulen und Universitäten zunächst weiter. Die Wahlen am 28. Juni finden statt.Einen Tag später tritt die Gesundheitsministerin zurück. Am 2. Juli schließen landesweit Schulen und Universitäten. Schwangere, Diabetiker und Herzkranke dürfen zu Hause bleiben, etwa 20 Prozent der Angestellten der öffentlichen Verwaltung. Gibt die Regierung vor den Wahlen die Zahl der Infizierten noch mit 1587 an, spricht der neue Gesundheitsminister wenige Tage später von über 100000 möglichen Ansteckungen. Ein Anwalt zeigt die Regierung an, weil sie mit Durchführung der Wahlen 25 Millionen Argentinier in Ansteckungsgefahr gebracht habe. Es heißt, die Regierung habe die Zahlen vor den Wahlen geschönt.
Seit dem 2. Juli sind Desinfektionsmittel in den Apotheken ausverkauft. Ein Mundschutz kostet plötzlich bis zu 20 Pesos (circa 3,80 Euro) statt 35 Centavos. 16000 Stück werden pro Tag verkauft. An den Bahnhöfen bieten fliegende Händler desinfizierende Gels und Mundschutze feil, bis die Gewerkschaft der Pharmazeuten vor deren Kauf warnt. »Im Internet gab es eine Anleitung, wie man Desinfizierungsgels herstellt«, sagt Marcelo Peretta, Sprecher des Pharmazeutenverbands, »von da an wurde gepanscht, zum Teil mit Industriealkohol. Und jeder, der eine Schere und Stoff zu Hause hatte, stellte plötzlich seinen eigenen Mundschutz her. Aber nicht jeder Stoff filtert das Grippevirus!«
Den ganzen Juli über machen die Ärzte und Krankenschwestern im Hospital Posadas Nachtschichten. Die Straßen in Buenos Aires sind wie leer gefegt, freie Bahn für die Motorräder der Pizzaservices, die Bestellungen steigen um 20 Prozent. Der Film Ice Age 3 ist in den Videotheken dauerverliehen. Der Infektiologe Alejandro Macías, der zu Beginn der Epidemie in Mexiko im Krisenstab war, bezeichnet Argentinien als das »Epizentrum« des Virus. Erst Ende Juli lässt die Panik langsam nach, in der ersten Augustwoche öffnen die Schulen und Universitäten. Ice Age 3 steht nun wieder in der Videothek im Regal.
Die Ärzte sind zuversichtlich, auch wenn sie keine Entwarnung geben können. Die Schweinegrippe könne noch mehrere Jahre im Land bleiben. »Doch immerhin wissen wir inzwischen, dass das Genom des Virus mit dem in Europa vergleichbar ist«, sagt Farias vom Hospital Posadas. »Wir können also Impfstoffe, die dort entwickelt werden, bei uns verwenden.«
Für Farias und sein Team ist das Abebben der Schweinegrippe nur eine Verschnaufpause. Denn Argentinien steht bereits die nächste Seuche bevor, sobald es Frühling wird: das Denguefieber, das über die Stechmücke Aedes aegypti übertragen wird. Zurzeit hält die Kältewelle im Land zumindest die Mücken im Zaum.
Quelle: bild.de, rp-online.de, focus.de, welt.de, berlinonline.de, AFP, mz-web.de, n-tv.de, sueddeutsche.de, spiegel.de, aerztezeitung.de, zeit.de.....
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